Heute, an einem Freitagmorgen, klingelt mein Wecker um 05:45 Uhr. Eigentlich stehe ich nie so früh auf, aber heute lag ich schon seit 04:00 Uhr wach im Bett.
Heute geht es zum ersten Mal in eine JVA für mich.
Der Strafverteidiger, bei dem ich mein Praktikum mache, hatte mich im Vorfeld extra im Gefängnis anmelden müssen. „Einfach so mitzukommen“ ist bei den strengen Sicherheitsvorkehrungen kaum möglich.
Um 07:00 Uhr morgens treffen wir uns vor der Kanzlei und fahren los: etwa zwei Stunden dauert die Fahrt in die Justizvollzugsanstalt. Pünktlich um 09:00 Uhr sind wir da und laufen zum Eingang – der Strafverteidiger tiefenentspannt und ich sichtlich nervös. Von außen ist die JVA fast unscheinbar. Wäre ich hier lediglich vorbeigefahren, hätte ich die hohen weißen Mauern vielleicht noch für einen Fabrikkomplex gehalten. Erst als wir auf dem Innenhof sind, sehe ich auch stellenweise Stacheldrahtzaun, der über den Mauern gespannt ist.

Angekommen im Empfangsraum geben wir erst einmal unsere Ausweise ab. Wir erhalten ein Besucherkärtchen und einen Schlüssel für unseren Spind. Ein Justizvollzugsbeamter führt uns in den nächsten Raum, in dem wir die Gelegenheit haben, unsere Taschen in den Spind zu legen. Alle unsere Wertsachen, Schmuck und den Inhalt unserer Taschen füllen wir in einen blauen Korb. Danach werden wir einzeln in einen Raum geführt, in dem ein Ganzkörper-Metalldetektor steht. Ich muss meine Schuhe ausziehen, auf die gelb markierten Flächen im Detektor treten und meine Arme heben. Meine Schuhe werden durchsucht und der Inhalt meiner Taschen wird begutachtet.
Wir werden in den nächsten Gebäudekomplex geführt und mein erster Eindruck des Besuchergebäudes ist, dass es mich an ein Kinderkrankenhaus erinnert. Es riecht gut hier, irgendwie sauber; die Wände sind orange gestrichen und mit farbenfrohen Bildern bedeckt. So habe ich es mir hier nicht vorgestellt. Der Beamte öffnet jede Tür und verschließt jede Tür einzeln und wir werden in einen engen Korridor geführt. Vor dem Besprechungsraum schaue ich durch die Tür hinein und denke: „Jetzt geht es also los“. Wegen der Infektionsgefahr erhalten wir keinen offenen Besprechungsraum, sondern einen, in dem der Mandant uns hinter einer Glasscheibe gegenübersitzen wird.
Der Besprechungsraum beinhaltet auf unserer Seite einen kleinen Raum mit einem Tisch und drei Stühlen. Auf der anderen Seite der Glasscheibe ist der Raum des Mandanten. Zur Verständigung gibt es eine Gegensprechanlage, die von allein funktioniert, also ohne einen Knopf beim Sprechen drücken zu müssen.
„Unser“ Mandant ist noch nicht da, deshalb setzen wir uns und warten. Währenddessen schaut sich der Strafverteidiger noch einmal die Akte an und geht Zeugenaussagen durch. Der Vorwurf an unseren Mandanten wiegt relativ schwer. Aufgrund der hohen Straferwartung (über drei Jahre) und der daher vermuteten Fluchtgefahr nach § 112 II Nr. 2 StPO sitzt er nun in U-Haft. Ich höre den Mandanten, noch bevor ich ihn tatsächlich sehe. Das Geräusch von Fußfesseln, die über den Boden schleifen, höre ich zum ersten Mal, aber kann es dennoch direkt zuordnen. Er tritt hinein und setzt sich. Er ist groß, breit gebaut, tätowiert und trägt einen dunkelblauen Gefängnisanzug. Sein Aussehen wirkt respekteinflößend auf mich. In den folgenden anderthalb Stunden geht der Strafverteidiger mit ihm die Akte durch, liest ihm die Zeugenaussagen vor, zeigt ihm die Bildbände der Polizei und bespricht den bevorstehenden Gerichtstermin. Der Mandant sieht abgeschlagen und erschöpft aus. Ich merke ihm an, dass er jetzt gerne woanders wäre. Er ist sehr freundlich, aufgeschlossen und respektvoll. Ich merke, dass ich will, dass ihm geholfen wird und sage zum Abschluss ein paar aufmunternde Worte. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er jetzt ein wenig Menschlichkeit gebrauchen könnte – jemanden, der ihn nicht behandelt wie einen gefesselten Kriminellen, sondern wie einen ganz normalen Menschen, der sich in einer misslichen Lage befindet. Ob er das, was ihm vorgeworfen wird, tatsächlich getan hat, weiß ich nicht und vielleicht wird sich das beim Gerichtstermin auch nicht zweifelsfrei bestätigen oder dementieren lassen.
Während ich im Besprechungsraum sitze, sehe ich andere Häftlinge mit Handschellen vor dem Raum entlanggehen, vermutlich auch zu Terminen mit ihren AnwältInnen. Einige sind noch sehr jung und schauen mich im Vorbeigehen durch das Sichtfenster in der Tür an. Wir verabschieden und von dem Mandanten und werden auf exakt demselben Weg wieder hinausgeleitet. Dadurch, dass es so viele Gebäudekomplexe gibt, kommt man als Besucher gar nicht dazu, den Zellentrakt oder den Hof der Häftlinge zu sehen. Dass man nicht in Ruhe herumspazieren und sich umschauen darf, ist ja klar.
Am Eingang erhalte ich meinen Personalausweis zurück und gehe durch das Tor an die frische Luft. Ich muss erstmal tief durchatmen und fühle mich befreit. Auf der Rückfahrt denke ich unentwegt an unseren Mandanten: wie er jetzt zurückgeführt wurde und was wohl beim Gerichtstermin passieren würde. Es sind eine Menge Zeugen und Zeuginnen geladen, daher wird es wohl eine lange Verhandlung. An das Opfer denke ich eher weniger – vielleicht, weil ich doch unserem Mandanten glaube und nicht davon ausgehe, dass die ihm vorgeworfene Tat auch wirklich in der Form stattgefunden hat. Ich merke, wie schwer es mir fällt, eine professionelle Distanz zu halten, weil ich noch so sehr unter dem bedrückten Eindruck stehe, den der Mandant auf mich gemacht hat.
Im Verlauf der Fahrt stelle ich fest, dass mich dieser Tag heute wohl noch länger beschäftigen wird. Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die bevorstehende Verhandlung und hoffe, dass dort viele der offenen Fragen, die geblieben sind, noch beantwortet werden können.